Die Rose von Nowgorod

Ein klick, gefolgt von knacksen, dann rauschende Stille. Das Ablegen der Nadel auf der Platte. Dann begann das Grammophon zu spielen. Zigarettenrauch drehte sich in dem goldenen Lichtkegel der Lampe, verschwand darüber in der Dunkelheit.

Das erste was er sieht ist das weiße Kleid, das zu Boden sinkt, das in den dunkelgrünen Matsch fällt. Schemenhaft nur ist die Gestalt am anderen Ufer zu erkennen, zwischen ihr und ihm steigt langsam der Dunst vor den mit Raureif bedeckten Tannen des Waldes aus dem schwarzen, spiegelglatten See. Er greift das Gewehr fester.

Die ersten Walzertakte tasten sich durch den dunklen Raum, die Lampe schwingt leicht, der Zigarrenrauch dreht sich beharrlich an die Decke. Er senkt die Zigarette, drückt sie zu den anderen im Aschenbecher, seine Knöchel werden weiß als er seinen Finger in das Porzellan dreht.

Vor ihnen liegt der See, unberührt, eingerahmt von dem dunklen Wintergrün des Waldes, am Ufer bedeckt durch dünnes Eis, über der Lichtung ein grauer Dom aus Dunst und Wolken, deren tiefhängende Bäuche schneegefüllt in Richtung ferner Berge eilen. Das Holz des Unterstandes knackt als er sich hinkniet und seinen Fuß gegen die moosbedeckte Rückwand abstützt. Stille. Er atmet, und sie tritt durch das Eis am Seeufer. Das Krachen scheucht Vögel aus dem Gebüsch.

„Wenn mal mein Herz unglücklich liebt“ krächzt es aus dem Plattenspieler. Vor ihm ist ein ungedeckter Holztisch, am anderen Ende steht der Plattenspieler, gerade außerhalb des Lichtkegels. Er kann die Platte kaum erkennen, aber er sieht dass sie leicht eiert. In der fernen Ecke des Zimmers steht ein Ecksofa, darüber hängen Gardinen, die in der Dunkelheit des Raums nur als Schatten wahrnehmbar sind. Seine Uniform spannt.

Sein Uniformkragen wellt sich als er das Gewehr auf dem Sims vor ihm anlegt. Die Oberfläche des Sees wird durchzogen von Ringen, ausgehend von den Bruchstellen im Eis. Die ersten Wellen schwappen an sein Ufer, plätschern gegen den Wurzelüberhang. Das Wasser das die Erde am Ufer benetzt gefriert schnell. Die Kälte beißt sich in ihre Knöchel, sie strauchelt, fängt sich, steht im Wasser. Er hört sie Atmen. Wie kleine Wölkchen steigt ihr Atem vor ihr auf.

„Ist es vor Kummer unsagbar betrübt“ Er seufzt. Der Zigarettenrauch vor ihm teilt sich. Er öffnet die ersten Knöpfe seines Mantels, den er vergessen hat an der Tür abzulegen. Zwischen den dichten Stoff schiebt er seine Hand. Sie zittert als er nach den Zigaretten greift. Der Teppich vor dem Sofa fällt ihm auf, es ist ein alter Perser. Selbst in der Dämmerung die durch die Lampe über dem Tisch kaum gebrochen wird ist sein Muster noch zu erahnen.

Sie setzt einen Schritt, und das eisige Wasser wandert ihre Waden hoch. Der Grund des Sees fühlt sich schwammig an. Sie atmet noch einmal durch, nimmt sich zusammen, und schiebt ihr Bein weiter nach vorne. Der gesamte kleine See ist in Wallung versetzt von ihren Schritten. Einige verdorrte Samen, die sich durch Herbst und Winter bis jetzt an den Bäumen gehalten hatten geben nun nach und werden durch sein Blickfeld geweht. Er sieht sie auf dem See landen. Er schluckt.

„Dann denk ich immer

Alles ist aus“ Sein Blick fällt auf die Lücke zwischen den Vorhängen, durch die vereinzelt Sterne blinzeln. Außen ist alles dunkel, alles ruhig, und in dem Apartment sammelt sich der Zigarettenrauch. Zarah Leander singt aus dem Plattenspieler. Er fingert an seinem Feuerzeug.

Sie ist jetzt bis zur Hüfte im Wasser. Das erste Mal nimmt sie ihre Arme beim Waten mit. Nun kann er ihren Körper durch den Nebel besser erkennen. Er zielt, und er zittert. In der Mitte des Sees steht das Schild, von Rost zerfressen, auf dem geschrieben steht: Halt! Militärgelände. Sie bewegt sich jetzt gleichmäßig, ihr Atem hat sich verlangsamt. Sie presst die Luft zwischen den Lippen durch, sodass er es hören kann. Ihre Augen sind gegen den Himmel gerichtet, und sie versucht die Kälte zu ignorieren, in der ihr Körper mit jedem Schritt tiefer versinkt.

Ich bin so allein“ Sein Feuerzeug zündet, und eine Stichflamme frisst sich durch den schwebenden Rauch. Er flucht. Die Zigarette hat sich am Ende entzündet. Er schüttelt sie bis sie nur noch glimmt. Dann führt er sie an seinen Mund und zieht.

„Halt“ ruft er, und der Wald ruft zurück. Seine Stimme zittert, er spürt sein Herz klopfen. Sie blickt jetzt direkt auf den versteckten Unterstand zu, in dem er kniet. Er fixiert seinen Unterarm und visiert sie an. Sie hat das Schild schon lange gesehen. Sie ist wegen dem Schild hier. Unbeirrt setzt sie ihren nächsten Schritt und ihre Zehen sinken in den eisigen Schlamm.

Er schlägt auf den Hebel und die Nadel des Grammophons hebt sich. Ein Knacken, dann stille. Die Platte dreht sich weiter. Seine Unterlippe zittert.

Ihre Unterlippe Zittert. Ihre Zehen krallen sich in den Schlamm, doch sie spürt sie nicht mehr. Ihr Kopf fällt in den Nacken, sie breitet die Arme aus. Sie steht jetzt auf der Höhe des Schildes. Er hat sie gewarnt. Seine Augen verengen sich, dann schließt er sie ganz. Sein Finger legt sich auf den Abzug, er atmet.

Ein Luftzug schlägt das Fenster auf, die Gardine teilt sich. Auf dem Sims steht eine Rose. Ein einzelnes reinweißes Blütenblatt löst sich, sinkt vorbei an den Stockwerken des Hauses, sinkt zu Boden, fällt in den dunkelgrünen Matsch.

 

Stille.

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